Erzähltraditionen sind wie Efeu oder wilder Wein:
Sie ranken sich fort und fort am Gemäuer der Zeit und bald sieht man ihre Wurzeln nicht mehr, wenn man sich an den neuesten Trieben und Sprossen erfreuen will. Das gute alte Bîspel ist wohl auch in den neueren Zeiten in Vergessenheit geraten, gleich einem abgestorbenem Seitentrieb. Zu Unrecht, wie mir scheinen will. Das Wort `bîspel' heißt übersetzt `Beispiel'. Es bezeichnete eine Gattung der literarischen kleinen erzählenden Form, die bewußt darauf abzielt, den Leser belehren zu wollen.
Sie entstand im späten Mittelalter als Reaktion auf die von den Didaktikern, umherziehenden Predigermönchen und Berufsdichtern verbreiteten Belehrungen, Schelten und Predigten. Im dreizehnten Jahrhundert begann ein Prozeß der allmählichen Ab- und Umbewertung der hochmittelalterlichen Adelskultur, welcher durch den Niedergang des Rittertums begründet wurde. Die alten Ideale wie `triuwe', `êre', `mâze' oder `reht' gingen verloren oder wurden zumindest kaum noch beachtet. Die Sänger aber trauerten ihnen nach und versuchten die Menschen durch didaktische Reden zu bessern. Inzwischen aber wuchs im Schutze der Mauern und Wehre in den Städten die neue Handels- und Arbeitswelt heran und mit ihr entstanden neue kulturelle Formen, die sich zunächst nur zaghaft artikulierten, bald aber mehr und mehr erblühten und die hochmittelalterlichen kulturellen Werte teils übernahmen, umformten oder weiterentwickelten, teils sich an ihnen rieben, sie parodierten und verlachten.
Didaxe, Belehrung also, war in der Stadt schon immer zu Hause; anders als die Didaktiker des 13. und 14. Jahrhunderts aber verbanden die selbstbewußten Handwerkerdichter ihre Belehrung stets mit guter, d.h. städtisch gemäßer Unterhaltung. So entstand das Bîspel, eine kleine Erzählform, die im Grunde aus zwei Teilen besteht: Zunächst aus einer spannenden `Story', die den Stoff liefert für die sodann folgende moralisierende Belehrung. Schließlich kann man ja wohl nicht bei allen Zuhörern oder Lesern voraussetzen, daß sie aus der dargebrachten Geschichte von selbst die richtigen Lehren ziehen. So kann der, der nur die Unterhaltung sucht, über den Rest der Geschichte hinweggehen, wer aber auf gute Lehren aus ist, wird ebenfalls nicht enttäuscht. Um den Eindruck bei seinem Publikum noch nachhaltiger zu gestalten, betonte der mittelalterliche Dichter natürlich oft genug, daß das, was er da zum Besten gab, auch tatsächlich wahr sei - eine auch sonst durchaus übliche Floskel.
Was hätte und das Bîspel wohl heute zu sagen ?
Es gibt im modernen Leben so ungeheuer vielfältige Situationen und Erlebnisse, die es wert sind, daß man sie nicht vergißt. Dabei will der Herausgeber nicht vordergründig belehren; wer aber geneigt ist, über einen guten Rat nachzudenken, dem soll er nicht versagt bleiben ...
Natürlich sind alle Geschichten wahr oder mindestens doch wahrhaftig; wer es nicht glauben mag, kann wohl bald im wirklichen Leben eines besseren belehrt werden.
Schließlich bleibt noch, dem Leser bei der Lekture Spaß, gute Unterhaltung und auch ein wenig Besinnlichkeit zu wünschen.